Der gespenstige Leichenzug am Sylvesterabend zu Schöneck

Schöneck

An einem Sylvesterabend des vorigen Jahrhunderts saß ein alter Schneider zu Schöneck, der gleichzeitig Stadtrath und Gemeindeältester daselbst war, noch spät auf und schneiderte für den kommenden Festtag. Seine betagte Ehehälfte leistete ihm Gesellschaft und half ihm bei der Arbeit. Siehe da suchten beide vergeblich nach dem Kameelgarn zu den Knopflöchern. Es war alle geworden und gleichwohl ward es nöthig gebraucht, der in Arbeit befindliche Rock mußte fertig gemacht werden. Es blieb also nichts übrig, als daß der Alte auf den Boden hinauf wußte, um aus der daselbst in einer Kammer befindlichen Niederlage neuen Vorrath herbeizuholen. Es war eine wunderschöne klare Winternacht, er trat also an die Dachlucke, schaute heraus und dabei wurde ihm so fromm und feierlich zu Muthe, daß er sein Käppchen abnahm und ein Vaterunser betete. Wenn man aber in der Neujahrsnacht unter einem Balken steht, dessen eines Ende nach Morgen gerichtet ist und ein Vaterunser betet und dabei nicht aus der Linie des Balkens heraustritt, da kann man „horchen“, d. h. einen Blick in die Zukunft thun, die in einzelnen Bildern vorüberzieht. Tritt man aber aus dem Kreise heraus oder erzählt man Jemandem, was man gesehen hat, so soll es einem den Hals umdrehen. Der Alte hatte gar nicht daran gedacht, aber auf einmal fängt es an zu läuten, als ob eine Leiche wäre, und den Mühlberg herauf kömmt ein langer, langer Leichenzug immer näher und näher, bis er vor dem Hause des Schneiders still hält. Es dauert auch nicht lange, so kömmt die Schule und die Geistlichkeit mit dem Kreuze voran, stellen sich neben der Bahre auf, singen zwei Lieder und eine Arie und dann setzt sich der Zug nach dem Kirchhofe zu in Bewegung. Der Alte kann die Leichenbegleiter alle erkennen, Vettern, Nachbarn, Gevattern, ja sogar sich selbst und seine Ehehälfte darunter, sich selbst dicht hinter dem Sarge und mit weinenden Augen. Da wurde ihm doch ein wenig bange, und er wäre gern fortgegangen, er dachte aber an das Halsumdrehen. Wie er nun so trübselig dastand und träumerisch hinausblickte, sah er aus einem Hause ein Flämmchen herausfahren, dann aus einem andern, dann wieder eins und wieder eins und zuletzt kam fast aus jedem Hause ein Flämmchen gefahren, und das wußte er wohl, bedeutete Feuer. Da konnte er sich nicht mehr halten, sprang aus dem Kreise und siehe es schlug Eins. Als er indeß wieder herunterkam, fand er seine Frau eingeschlafen, er weckte sie auch nicht, sondern legte sich ebenfalls nieder, ohne in die Mette zu gehen, und blieb viele Tage verstimmt. Als er aber einige Tage darauf den Wächter traf, that dieser sehr geheimnißvoll, und redete von einem schlimmen Jahr, das da kommen werde u. s. w. und da wußte er, daß derselbe auch gehorcht hatte. Es dauerte aber kaum einige Wochen, da starb des alten Schneiders Bruder, der Müller in der Bockmühle. Es wurde zur Leiche geläutet, der Zug kam den Mühlberg herauf, hielt vor des Schneiders Hause still, die Schule und die Geistlichkeit voran, und sie sangen dieselben zwei Lieder und die Arie, wie er damals gehört, und dieselben Leute, die er damals gesehen, gingen hinter dem Sarge her. Der alte Wächter aber stand an der Kirchhofsmauer, sah den Schneider bedeutungsvoll an und weinte bitterlich, so daß die Leute nicht begreifen konnten, wie ihn der Leichenzug so alterirte, der ihn doch nichts anging. Der hatte aber seinen guten Grund dazu, denn in demselben Jahre noch brannte fast die ganze Stadt ab und des alten Schneiders Haus auch.

Quelle: Grässe Sagenschatz des Königreichs Sachsen


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